UNGARN
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Es gibt zahlreiche Gründe, warum sich Menschen für einen juristischen Beruf entscheiden – ich persönlich wollte mich für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einsetzen. Für mich war das Recht immer ein besonderes Mittel, um die ungleiche Beziehung zwischen den Starken und den Schwachen, vor allem zwischen dem Staat und Privatpersonen, auszugleichen und Machtmissbrauch zu verhindern oder wiedergutzumachen. Darum habe ich Jura studiert. Nach meinem Abschluss 1999 habe ich mich beim Hungarian Helsinki Committee (HHC) beworben, eine der ältesten und renommiertesten NGO für Menschenrechte in Ungarn. Dort habe ich erst im Bereich Rechtsforschung und Haftüberwachung und anschließend als Syndikusanwalt gearbeitet, bis ich 2007 als einer von zwei Vorsitzenden des HHC gewählt wurde. In dieser Position bin ich noch heute tätig. In den ersten zehn Jahren beim HHC schien es, als könnte das Recht das Versprechen halten, das mich überhaupt erst in dieses Wirkungsfeld gebracht hat. Wir haben Opfern von Menschenrechtsverletzungen Rechtsbeistand geleistet, uns mit strategischen Prozessen befasst, umfangreiche Rechtsforschung betrieben und uns für mit Menschenrechten verträglichen Lösungen im Gesetzgebungsverfahren eingesetzt. Dadurch konnten wir mehrere Zuwiderhandlungen korrigieren und die allgemeine Einhaltung von international anerkannten Menschenrechtsnormen im Land verbessern.
Was die Menschenrechte im Strafverfolgungs- und Strafrechtssystem angeht, konnten wir zum Beispiel erfolgreich die Einrichtung einer Stelle für Zivilbeschwerden erreichen. Beschwerden in Bezug auf Grundrechtsverletzungen durch Polizeibeamte werden so von einem Gremium entschieden, das von der Polizei unabhängig ist. Über Forschung und faktenbasierte Beratung konnten wir die Beteiligten davon überzeugen, dass in einem System, in dem Polizeiermittler einen Pflichtverteidiger für mittellose Angeklagte bestellen, die Rechtshilfe unweigerlich suboptimal ist. In der Folge wurde das Gesetz geändert, um sicherzustellen, dass Angeklagten Pflichtanwälte von der Anwaltskammer und nicht von der Polizei zugewiesen werden. Unsere Errungenschaften haben meine anfängliche Überzeugung bestätigt, dass Menschenrechtsgesetze ein wichtiges Vehikel für positive gesellschaftliche Veränderungen sein können. Neben der Unterstützung bei einzelnen Verletzungen können sie zu allgemeinen Verbesserungen beitragen, indem sie wichtige normative Botschaften vermitteln und schutzbedürftigen Menschen Schutz bieten. Jedoch hat sich 2010 der politische und rechtliche Rahmen unserer Arbeit radikal, wenn auch schrittweise verändert. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament hat die 2010 gewählte Regierung begonnen, das System der gegenseitigen Kontrolle zu schwächen, indem sie alle Institutionen abgeschafft oder besetzt hat, die Kontrolle über die Exekutive ausüben können. Die Instrumentalisierung des Gesetzes, einschließlich der ungarischen Verfassung, spielte bei diesem Prozess eine entscheidende Rolle.
Nachdem das Verfassungsgericht zum Beispiel ein Gesetz kassiert hatte, das zum Ziel hatte, rückwirkend eine extrem hohe Steuer auf Abfindungen für staatliche Angestellte zu erheben, die nach dem Regierungswechsel entlassen wurden, hat die neue Mehrheitsregierung über eine Gesetzesänderung das Gericht seines Rechts enthoben, die Verfassungsmäßigkeit steuerbezogener Gesetze zu prüfen. In diesem Rahmen wurde eine Verfügung in die Verfassung aufgenommen, die die Auferlegung ähnlicher Steuern ausdrücklich erlaubte. Anschließend wurde eine neue Fassung des kassierten Gesetzes verabschiedet. Die Verfassung wurde ebenfalls geändert, um die Zahl der Richter am Verfassungsgericht zu erhöhen und die Regeln für ihre Ernennung auf eine Weise zu ändern, die der parlamentarischen Opposition jede Möglichkeit nahm, den Prozess maßgeblich zu beeinflussen. Dies führte anschließend zu einer Aufstockung des Gerichts. Dann wurde der Vorsitzende des obersten Gerichtshofs abgesetzt, nachdem er die Regierungspläne, die Justizverwaltung zu reformieren, wegen ihrer Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit kritisiert hatte. Die Liste, wie das Gesetz von einem Instrument des Schutzes für die Schwachen zu einem Machtwerkzeug in den Händen jener wurde, die seine Rechtsstaatlichkeit unterwandern möchten, um die Grenzen ihrer Macht aufzuweichen, könnte nahezu endlos fortgesetzt werden.
Für mich als Menschenrechtsanwalt war dieser eskalierende Prozess aus verschiedenen Gründen eine Herausforderung. Zunächst einmal, weil ein konstruktiver, auf Menschenrechte basierender Dialog mit den Behörden unmöglich geworden war, obwohl dies in einer gut funktionierenden liberalen Demokratie ein sehr wichtiges Element der Anwaltstätigkeit für Menschenrechte ist, dem oft schwierige Gerichtsverfahren vorausgehen. Da die regierende Mehrheit sowohl Menschenrechtsnormen als auch Regulierungsorganisationen und Anwälte, die versuchen, diese durchzusetzen, als Grenzen betrachten, die sie eliminieren möchten, wurden die Kanäle für einen solchen Dialog nach und nach verschlossen. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Beendigung aller Kooperationsvereinbarungen, die regelten, dass das HHC Haftanstalten über fast zwei Jahrzehnte überwachen konnte.
Seit die regierende Partei die erforderliche Mehrheit hat, um die Verfassung zu ändern, können sie den Rechtsrahmen gestalten, wie es ihnen beliebt, ohne dabei – aus streng formaler Perspektive – die Grenzen des Gesetzes zu überschreiten. Diese „verfahrensrechtliche Unfehlbarkeit“ stellt das schwierige Dilemma dar, wie lange man Gesetzen folgen sollte, die Menschenrechtsnormen ignorieren, und wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem es gerechtfertigt ist, zivilen Ungehorsam zu leisten. Diese Entscheidung wird durch das dritte Problem noch erschwert, nämlich das zunehmende Wegbrechen einer effektiven institutionellen Infrastruktur für die Durchsetzung von Menschenrechtsnormen. Wenn die Unabhängigkeit der Justiz, des Verfassungsgerichts und anderer Institutionen, die die Freiheiten des Einzelnen schützen sollen, oft vom Staat unterwandert wird, und wenn diese Institutionen mit Regierungstreuen besetzt sind, die nicht bereit sind, Konflikte mit der Exekutive zu behandeln, ist der Bewegungsradius für die Durchsetzung dieser Freiheiten über konventionelle rechtliche Mittel stark eingeschränkt. Gemäß dem traditionellen Verständnis kann auf zivilen Ungehorsam nur zurückgegriffen werden, wenn alle Rechtswege versucht wurden, die eine begründbare Aussicht auf Erfolg haben, oder wenn es diese Wege nicht gibt. In einem System, in dem die Grenzen verschwimmen und in dem noch gute und gerechte Urteile von einzelnen Richtern möglich sind, die sich ihre Integrität bewahrt haben, aber in dem auf Systemebene die Chancen für ein solches Ergebnis ständig abnehmen, ist es eine schwierige Entscheidung, weiterhin im Rechtswesen tätig zu sein.
Und trotzdem glaube ich aus vielerlei Gründen an den Rechtsweg. Einer ist genau die legalistische Natur des Regimes und die Bedeutung, die es dem Anschein von Rechtmäßigkeit beimisst. Aufgrund dieser Eigenschaft haben rechtliche Verweise (in Form eines Gerichtsurteils gegen sie) eine stärkere Wirkung auf die Selbstachtung und Identität des Regimes als politische oder diplomatische Kritik. Zudem sind gerichtliche Schritte für regulierende NGO und Aktivisten von den Grenzen des gekaperten inländischen institutionellen Rahmens aus ein einfacherer und direkterer Weg als die sehr wichtige Beratungsarbeit. Nachdem alle zunehmend unwirksamen inländischen Rechtsmittel probiert wurden, gibt es einen direkten Weg zu internationalen Stellen, wie zum Beispiel den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), vor dem ein eindeutiges Urteil zur Einhaltung von internationalen Menschenrechtsstandards eingeholt werden kann. Und dann ist da der Trotz. Als die aktuell regierende Partei versucht hat, die ungarische Trikolore zu monopolisieren, indem sie ihre Sympathisanten aufgerufen hat, sie jederzeit zu tragen und sich anzueignen, war meine Reaktion, dass sie auch jenen Landsleuten gehörte, die ihnen widersprachen. Auch uns gehört das Gesetz. Wir dürfen nicht zulassen, dass es für die Unterwanderung der Rechtsstaatlichkeit monopolisiert wird. Wir müssen sie weiterhin für ihren eigentlichen Zweck anwenden: das Spielfeld auszugleichen und die Schwachen vor den Starken zu schützen.
Kapronczay, S. – Szabó, M. D., ’Felszabadulva’, Magyar Narancs, 25. Juni 2020.
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