GERHART BAUM
GERHART BAUM
Die Nachkriegszeit ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine endgültig zu Ende. Ein Zeitenwende hat begonnen und wirft grundsätzliche Fragen auf: Was bedeutet der Überfall auf die Ukraine für das Recht, das Völkerrecht – und was kann das Recht jetzt leisten.
Dieser Krieg ist keine regionale Auseinandersetzung, die man schnell beenden könnte. Er ist ein Anschlag auf die 1945 mit der „Charta der Vereinten Nationen“ begründeten Friedensordnung. Das Ziel steht im ersten Kapitel der Charta: die Völker der Welt sollte vor der „Geißel des Krieges“ künftig bewahrt werden. Nach den von den Nazis entfesselten Weltenbrand wurden darin zum ersten Mal Friedenssicherung und Schutz der Menschenrechte in einen untrennbaren Zusammenhang gebracht. Man hatte begriffen: Frieden ohne Schutz der Menschenrechte – das geht nicht. Universelle Rechte auf ein menschenwürdiges Leben wurden festgeschrieben. Erschrocken kam die Menschheit nach der Katastrophe 1945 zur Besinnung. Die Verachtung der Menschenrechte, so stellte man fest, habe zu Akten der Barbarei geführt, die – so wörtlich in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948: „das Gewissen der Menschheit zutiefst verletzt haben“. Ja, es gibt ein „Gewissen der Menschheit“. Die Menschenrechte sollten die Herrschaft des Rechts sichern und nicht dem Recht des Stärkeren ausgeliefert werden.
Dass die Menschheit gegen diese Ordnung im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verstoßen hat, mindert nicht deren Bedeutung. Sie war der Maßstab. Sie wurde im Kern nicht in Frage gestellt, selbst von den schlimmsten Kriegsverbrechern nicht. Sie haben in der Regel einfach bestritten, gegen diese Ordnung verstoßen zu haben.
Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russland diese Rechtsordnung nicht nur verletzt, sondern ganz offen für sich nicht mehr anerkannt. Und das hat Gewicht: Russland ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, dessen Aufgabe es ist, den Frieden der Welt zu sichern. Russland hat in diesem Gremium ein Vetorecht und Russland hat Atomwaffen, mit denen es seine Gegner jetzt bedroht. Alles geschieht zudem mit Duldung Chinas, auch einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht, auch eine Atommacht. Damit hat ein bisher nicht gekannter Tabubruch stattgefunden. Eine rote Linie ist überschritten worden. Das haben seinerzeit nicht einmal die Sowjets gewagt.
Wir befinden uns heute mitten in einer weltweiten Auseinandersetzung: gilt diese Völkerrechtsordnung noch oder fallen wir vor 1945 zurück? Es ist die Ukraine, die unsere Werte jetzt verteidigt. Sie darf nicht fallen, sonst fallen wir mit.
Noch deutlicher wird dieser Anschlag auf das Völkerrecht, wenn man den Motiven des Aggressors nachspürt. Das sei dringend empfohlen, will man nicht erneut Illusionen zum Opfer zu fallen, als sei mit diesem Überfall alles vorbei. Aus Putins Sicht soll eine neue Weltordnung entstehen. Europa soll destabilisiert und – wie es heißt – „neu geordnet“ werden. Das ist bisher allerdings misslungen. Im Gegenteil: Europa und die NATO rücken näher zusammen.
Im Kampf gegen den Aggressor gilt das Recht auch als eine Waffe. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ich haben in diesem Sinn das seit 2002 geltende deutsche Völkerstrafrecht genutzt. In einem umfangreichen Dossier haben wir Gräueltaten etwa in Mariupol und Butcha erfasst. Wir haben sie den Rechtsvorschriften zugeordnet und Tätergruppen benannt. Wir haben dieses Material dem Generalbundesanwalt übermittelt. Nun wünschen wir sehr, dass er nicht nur seine Systemermittlungen fortsetzt, sondern bald auch einzelne Täter anklagt und mit Haftbefehlen belegt. Es soll ein Signal mitten in den Krieg hinein sein. Allen Tätern, vor allem auch auf der Kommandoebene, soll bewusst werden, dass sie unter Anwendung des deutschen Völkerstrafrechts als Kriegsverbrecher verfolgt werden können. Die Bedeutung dieses Verfahrens wird durch andere Aktivitäten, etwa des Internationalen Strafgerichtshofes, nicht gemindert. Das deutsche Völkerstrafrecht ist ein Auftrag an die deutsche Justiz.
Die Anwältinnen und Anwälte in dieser Publikation leben in großer Gefahr, wenn sie Freiheitskämpfer verteidigen. Das Mindeste ist der Entzug ihrer Zulassung. Nicht selten wandern sie gemeinsam mit ihren Mandanten in ein Straflager. Meine Frau und ich hatten Ende letzten Jahres mit unserer gemeinnützigen Stiftung – der „Gerhart und Renate Baum-Stiftung“ – eine Spendenaktion für die verfolgten belarusischen Anwälte und Anwältinnen initiiert. Auch mit Unterstützung des Deutschen Anwaltsvereins. Dafür möchten wir ausdrücklich danken. Hilfe ist nach wie vor nötig. Wir kennen allein mehr als 50 Anwälte aus Belarus, die hilfsbedürftig sind. Es muss dringend weitergeholfen werden!
Nach so viel Düsternis möchte ich mit einem optimistischen Ausblick schließen. Es gibt Licht im Tunnel. Als inzwischen alter Mann, als sehr alter Mann, habe ich erlebt, wie unsere Gesellschaft mit großen Krisen fertig geworden ist. Die Kriegsbilder der Ukraine – das waren auch die Kriegsbilder meiner Kindheit im zerstörten Dresden, dessen Feuersturm ich überlebt habe. Wir waren Flüchtlinge, konfrontiert mit dem Tod, mit Hunger und Not, wie viele andere das heute erleiden.
Was haben wir seither nicht alles geschafft: einen beispiellosen Wiederaufbau unseres Landes – moralisch, politisch und ökonomisch. Die Aufnahme und Integration von Millionen von Flüchtlingen immer wieder – bis heute. Die europäische Einigung ist ein Erfolgsmodell, aber nur dann, wenn es kraftvoll weiterentwickelt wird. Die Befreiung und der Aufbau der früheren DDR und Osteuropas war eine große Leistung. Wir müssen heute einfach den Mut haben, die Zukunft neu zu denken. Ein junger Ukrainer sagte dieser Tage in Anspielung auf Helmut Schmidt in der ZEIT: „Wer keine Visionen hat, der muss zum Arzt.“
Ja, wir brauchen diese Veränderungsbereitschaft, mit Mut, Nüchternheit und mit einiger Leidenschaft. 1945 – ja, das war auch eine Vision – eine Vision mit einiger Wirkung. Auch wir, die Juristinnen und die Juristen, müssen handeln. Leben wir das Grundgesetz, eine Verfassung, wie sie die Deutschen vor uns nie hatten! Leben wir die Menschenrechte!
Die Nachkriegszeit ist mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine endgültig zu Ende. Ein Zeitenwende hat begonnen und wirft grundsätzliche Fragen auf: Was bedeutet der Überfall auf die Ukraine für das Recht, das Völkerrecht – und was kann das Recht jetzt leisten.
Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russland diese Rechtsordnung nicht nur verletzt, sondern ganz offen für sich nicht mehr anerkannt. Und das hat Gewicht: Russland ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, dessen Aufgabe es ist, den Frieden der Welt zu sichern. Russland hat in diesem Gremium ein Vetorecht und Russland hat Atomwaffen, mit denen es seine Gegner jetzt bedroht. Alles geschieht zudem mit Duldung Chinas, auch einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht, auch eine Atommacht. Damit hat ein bisher nicht gekannter Tabubruch stattgefunden. Eine rote Linie ist überschritten worden. Das haben seinerzeit nicht einmal die Sowjets gewagt.
Wir befinden uns heute mitten in einer weltweiten Auseinandersetzung: gilt diese Völkerrechtsordnung noch oder fallen wir vor 1945 zurück? Es ist die Ukraine, die unsere Werte jetzt verteidigt. Sie darf nicht fallen, sonst fallen wir mit.
Noch deutlicher wird dieser Anschlag auf das Völkerrecht, wenn man den Motiven des Aggressors nachspürt. Das sei dringend empfohlen, will man nicht erneut Illusionen zum Opfer zu fallen, als sei mit diesem Überfall alles vorbei. Aus Putins Sicht soll eine neue Weltordnung entstehen. Europa soll destabilisiert und – wie es heißt – „neu geordnet“ werden. Das ist bisher allerdings misslungen. Im Gegenteil: Europa und die NATO rücken näher zusammen.
Dieser Krieg ist keine regionale Auseinandersetzung, die man schnell beenden könnte. Er ist ein Anschlag auf die 1945 mit der „Charta der Vereinten Nationen“ begründeten Friedensordnung. Das Ziel steht im ersten Kapitel der Charta: die Völker der Welt sollte vor der „Geißel des Krieges“ künftig bewahrt werden. Nach den von den Nazis entfesselten Weltenbrand wurden darin zum ersten Mal Friedenssicherung und Schutz der Menschenrechte in einen untrennbaren Zusammenhang gebracht. Man hatte begriffen: Frieden ohne Schutz der Menschenrechte – das geht nicht. Universelle Rechte auf ein menschenwürdiges Leben wurden festgeschrieben. Erschrocken kam die Menschheit nach der Katastrophe 1945 zur Besinnung. Die Verachtung der Menschenrechte, so stellte man fest, habe zu Akten der Barbarei geführt, die – so wörtlich in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948: „das Gewissen der Menschheit zutiefst verletzt haben“. Ja, es gibt ein „Gewissen der Menschheit“. Die Menschenrechte sollten die Herrschaft des Rechts sichern und nicht dem Recht des Stärkeren ausgeliefert werden.
Dass die Menschheit gegen diese Ordnung im Laufe der Jahrzehnte immer wieder verstoßen hat, mindert nicht deren Bedeutung. Sie war der Maßstab. Sie wurde im Kern nicht in Frage gestellt, selbst von den schlimmsten Kriegsverbrechern nicht. Sie haben in der Regel einfach bestritten, gegen diese Ordnung verstoßen zu haben
Im Kampf gegen den Aggressor gilt das Recht auch als eine Waffe. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ich haben in diesem Sinn das seit 2002 geltende deutsche Völkerstrafrecht genutzt. In einem umfangreichen Dossier haben wir Gräueltaten etwa in Mariupol und Butcha erfasst. Wir haben sie den Rechtsvorschriften zugeordnet und Tätergruppen benannt. Wir haben dieses Material dem Generalbundesanwalt übermittelt. Nun wünschen wir sehr, dass er nicht nur seine Systemermittlungen fortsetzt, sondern bald auch einzelne Täter anklagt und mit Haftbefehlen belegt. Es soll ein Signal mitten in den Krieg hinein sein. Allen Tätern, vor allem auch auf der Kommandoebene, soll bewusst werden, dass sie unter Anwendung des deutschen Völkerstrafrechts als Kriegsverbrecher verfolgt werden können. Die Bedeutung dieses Verfahrens wird durch andere Aktivitäten, etwa des Internationalen Strafgerichtshofes, nicht gemindert. Das deutsche Völkerstrafrecht ist ein Auftrag an die deutsche Justiz.
Die Anwältinnen und Anwälte in dieser Publikation leben in großer Gefahr, wenn sie Freiheitskämpfer verteidigen. Das Mindeste ist der Entzug ihrer Zulassung. Nicht selten wandern sie gemeinsam mit ihren Mandanten in ein Straflager. Meine Frau und ich hatten Ende letzten Jahres mit unserer gemeinnützigen Stiftung – der „Gerhart und Renate Baum-Stiftung“ – eine Spendenaktion für die verfolgten belarusischen Anwälte und Anwältinnen initiiert. Auch mit Unterstützung des Deutschen Anwaltsvereins. Dafür möchten wir ausdrücklich danken. Hilfe ist nach wie vor nötig. Wir kennen allein mehr als 50 Anwälte aus Belarus, die hilfsbedürftig sind. Es muss dringend weitergeholfen werden!
Nach so viel Düsternis möchte ich mit einem optimistischen Ausblick schließen. Es gibt Licht im Tunnel. Als inzwischen alter Mann, als sehr alter Mann, habe ich erlebt, wie unsere Gesellschaft mit großen Krisen fertig geworden ist. Die Kriegsbilder der Ukraine – das waren auch die Kriegsbilder meiner Kindheit im zerstörten Dresden, dessen Feuersturm ich überlebt habe. Wir waren Flüchtlinge, konfrontiert mit dem Tod, mit Hunger und Not, wie viele andere das heute erleiden.
Was haben wir seither nicht alles geschafft: einen beispiellosen Wiederaufbau unseres Landes – moralisch, politisch und ökonomisch. Die Aufnahme und Integration von Millionen von Flüchtlingen immer wieder – bis heute. Die europäische Einigung ist ein Erfolgsmodell, aber nur dann, wenn es kraftvoll weiterentwickelt wird. Die Befreiung und der Aufbau der früheren DDR und Osteuropas war eine große Leistung. Wir müssen heute einfach den Mut haben, die Zukunft neu zu denken. Ein junger Ukrainer sagte dieser Tage in Anspielung auf Helmut Schmidt in der ZEIT: „Wer keine Visionen hat, der muss zum Arzt.“
Ja, wir brauchen diese Veränderungsbereitschaft, mit Mut, Nüchternheit und mit einiger Leidenschaft. 1945 – ja, das war auch eine Vision – eine Vision mit einiger Wirkung. Auch wir, die Juristinnen und die Juristen, müssen handeln. Leben wir das Grundgesetz, eine Verfassung, wie sie die Deutschen vor uns nie hatten! Leben wir die Menschenrechte!
Ausblick